
Die Architektur der Insel La Réunion
im Indischen Ozean
Eine Reise für die Sinne



Ein Beweis ihres Wohlstands: Um in der heißen Jahreszeit frische Luft zu schöpfen, ließen die reichen kreolischen Familien sich in der damaligen Zeit in den Höhenlagen der Insel Sommerresidenzen bauen. Das Haus Maison Folio in Hell-Bourg im Talkessel Salazie ist dafür ein gutes Beispiel: Die Villa besitzt die Attribute eines kreolischen Hauses (lebhafte Farben, Zierstreifen), aber in extrem vornehmer und eleganter Ausführung; es ist umgeben von einem Garten mit seinem Guétali, (einem kleinen Holzpavillon, in dem man Gespräche führen und eventuell auch seine Nachbarn beobachten kann – „guet a li“ kann in etwa mit „schau ihn an“ übersetzt werden), seinem Brunnen und seinen gepflasterten Gehwegen. In diesem Garten zu flanieren ist eine Reise für die Sinne dank der Düfte der vielen aromatischen Heilpflanzen: Geranien, Vetiver, Patschuli, Kurkuma, Zitronengras, Viergewürz… Eines der Nebengebäude zeigt heute eine kleine Ausstellung von Gebrauchsgegenständen und lokalem Kunsthandwerk aus früheren Zeiten.
Es gibt übrigens noch andere Dörfer auf der Insel, die einen Besuch wert sind, wenn das architektonische Erbe Sie interessiert: Die Domaine du Grand Hazier in Sainte-Suzanne etwa ist ein gutes Beispiel für die kreolische Architektur auf einem landwirtschaftlichen Gutshof. Auch die kleinen Ortschaften, Îlets genannt, mit ihren Häusern aus Blech, immer sauber gehalten, sind einen Besuch wert. Hell-Bourg zählt zu den „schönsten Dörfern Frankreichs“.



Modernität & Exotismus
In den Städten musste nach der französischen Revolution und dem Zusammenbruch der Plantagen-Gesellschaft und der Abschaffung der Sklaverei die Architektur der offiziellen Gebäude als Symbol der Macht eine ähnliche Entwicklung wie die der Geschichte selbst durchlaufen. Davon zeugt die Präfektur von Saint-Denis: Das Gebäude, zunächst ein abgesichertes Lager, in dem die Kolonialverwaltung Güter und Waffen aufbewahrte und in dem auch der Inselgouverneur wohnte, verfiel in der Zeit des Kaiserreichs und der englischen Besetzung, bevor es ab 1822 wieder instandgesetzt wurde und sein heutiges Aussehen erhielt: eine Aufstockung auf drei Etagen, eine neoklassizistische Fassade und ein Belvedere auf dem Haupttrakt. Vergessen Sie auch nicht, die schönen Stadthäuser zu bewundern: in Saint-Denis die Villen Deramond und Carrère; in Saint-Pierre die Häuser Orré und Adam de Villiers. Ebenfalls in Saint-Pierre ist das Rathaus, das auf den Grundstöcken des ehemaligen Kolonialwaffenlagers errichtet wurde, ein schönes Beispiel für den Kolonialstil des 18. Jahrhunderts, der vom Wissen und der Erfahrung der Schiffszimmerleute beeinflusst wurde. Diese hatte man zur Erbauung der Gebäude herangezogen.
Zurück in Saint-Denis ist das architektonische 20. Jahrhundert an verschiedenen Bauten zu beobachten. Dazu gehören die Post Poste Centrale (1965) und die Verwaltung für Land- und Forstwirtschaft Direction de l’Agriculture et de la Forêt (1970), die beide von dem Architekten Jean Bossu konzipiert wurden, der dem Atelier Le Corbusier angehörte. Die Flügel des Verwaltungsgebäudes sind verschieden hoch und untereinandergeschoben. Die Poststelle ist eine klassischere Kombination: ein Wohnturm, der erste auf der Insel, und auf den unteren Büroetagen aufgebaut, aber nach den Gesetzen der modernen Architektur und mit einem Hauch Exotismus versehen. Beide Beispiele sind für alle, die sich für Architektur interessieren, höchst interessant. Die Insel unter dem Gesichtspunkt ihres historischen und kulturellen Erbes besichtigen, das ist ein Gedanke, der ganz neue Perspektiven eröffnet!