Entdecken Sie die hinduistische Kultur, Philosophie und Religion – so, wie sie auf La Réunion praktiziert werden.
Eintauchen in die indo-reunionesische Kultur
Bereits in den ersten Minuten vermischt sich der Geruch von Räucherstäbchen mit dem der Ketten aus frischen Blumen, die bestimmte Statuen schmücken. Die besondere Atmosphäre dieses kleinen Familien- und Vereinstempels weckt alle meine Sinne. Nach Betreten des Tempels erklärt mir mein Führer, das Ganesha die erste Statue ist, die der Bußwillige sieht und anbetet, denn er symbolisiert den Gott, der die Türen zur Überwindung von Hindernissen öffnet. Weiterhin bemerke ich Vishnu – „den Gott der Götter“, dem der Ort gewidmet ist – und bestaune den Detailreichtum der Hüterinnen der Feuergöttin Pandialé. Auf einem Flachrelief erkenne ich Buddha wieder: Er gilt im Hinduismus als ein Avatar von Vishnu, erklärt Jahiro. Vor jeder Gottheit erzählt mir mein Führer voller Begeisterung die mythologischen Begebenheiten, die sie in Szene setzen.
330 Millionen Gottheiten
„Der Hinduismus ist eine polytheistische Religion. Bei seiner Geburt wird jeder Mensch mit einer Gottheit assoziiert, im Laufe seines Lebens kann er jedoch mehrere anrufen, erklärt Jahiro genauer. Demnach gäbe es 330 Millionen Gottheiten. Diese Zahl sei vor allem symbolisch, um die Tatsache zu veranschaulichen, dass der Mensch dazu neigt, seine göttlichen Kapazitäten nicht voll auszuschöpfen“, fasst mein Führer zusammen.
Auf La Réunion weist der Hinduismus weiterhin einige Besonderheiten auf, ein Erbe von den verpflichteten indischen Arbeitern, die nach Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert auf die Insel kamen. „Auf der Insel mussten sie sich zum Katholizismus konvertieren. Seither werden viele Einwohner von La Réunion mit hinduistischem Glauben auch in der Kirche getauft“, legt Jahiro ausführlich dar. Als eine weitere Besonderheit werden gewisse Rituale, die in Indien quasi verschwunden sind, auf der Insel noch immer praktiziert. Zwei davon sind die Opfergaben für die Göttin Karli oder auch die Feuerläufe.
Eintauchen
Der letzte Lauf fand übrigens vor wenigen Tagen statt: 80 Bußwillige haben den Tikouli durchquert, einen mit Glut gefüllten Graben, der bei meinem Besuch noch Wärme ausstrahlte.
Die Vorstellung, dass man auf dieser Glut laufen kann, ist beeindruckend! „Vor dem Lauf halten die Bußwilligen 18 Tage lang eine strenge Fastenzeit ein. Ihr Glauben erlaubt ihnen die Durchquerung, ohne sich dabei zu verbrennen“, fügt Jahiro hinzu.
Die Fastenzeiten bestimmen im Übrigen das Leben der Gläubigen: vor jedem Tempelbesuch halten sie eine dreitägige Fastenzeit ein, während der sie kein Fleisch essen.
Um voll und ganz in dieses Erlebnis einzutauchen, hatte ich mich im Übrigen dazu entschlossen, vor meinem Besuch vegan zu leben. Auf dem Speiseplan standen Klassiker der reunionesischen Küche: Brèdes (Blätter und Stängel verschiedener lokaler Pflanzen), geschmorte „Couchou“ (Chayote) und Massalé Pois (Erbsen mit typischer Gewürzmischung).
Am Ende meines Besuchs halte ich erneut vor der Ganesha-Statue inne. „Er ist der Gott der Weisheit. Man betet ihn beispielsweise vor einer Prüfung oder einem Bewerbungsgespräch an“, erläutert der Führer. Dies ist ein idealer Abschluss dieses Besuchs, während dem ich all meine Fragen über den Hinduismus auf La Réunion stellen konnte. Ich nutze die Gelegenheit und nehme mir ein paar Minuten Zeit, um ein Räucherstäbchen als Zeichen der Dankbarkeit für diese Stunden der Gemeinsamkeit und der Entdeckung einer anderen Kultur und Religion anzuzünden.